Matthias Hesse hält das kleine dicke Buch wie eine Trophäe in der Hand. Es trägt den Titel „Lehrbuch des Schachspiels“. Als er es bekam, war der historische Buchblock in Pappe und Papier eingeschlagen, ausgefranst und mit Kuli beschriftet. Bestenfalls zweckmäßig, aber dem Druckwerk nicht würdig.
„Der Kunde kam zu mir und sagte: Das ist sehr, sehr alt. Ein Erbstück. Können sie das wieder schön machen?“ Matthias Hesse kann. Er freut sich über Aufträge wie diese, weil er dank ihnen ganz traditionell arbeiten kann. Der Buchbindermeister hat das postkartengroße Lehrbuch über das „Spiel der Könige“ für nächste Generationen in stundenlanger Handarbeit halt- und nutzbar gemacht. Er hat gemessen, geschnitten, gewalzt, gefalzt und geklebt.
„Ich habe mich beim Umschlag für helles Ziegenleder entschieden“, sagt er. „Da bin ich farblich irgendwie dem alten Pappdeckel treu geblieben.“ Er lächelt und streicht – fast schon verlegen – über das beige Ziegenleder des Buchrückens, das sich weich und geschmeidig anfühlt. „Die Beschriftung habe ich mithilfe von Bleilettern und einer uralten Presse auf den Buchdeckel gebracht.“ Alles wie früher, aber anno 2022.
Matthias Hesse kommt 1970 in Dessau-Roßlau zur Welt. „Meine Familie war aber schon immer in Bernburg“, sagt er. Uropa Max, Opa Hermann und Vater Joachim waren und sind allesamt Buchbindermeister. Seit 1906 ansässig in der Talstadt, dem Stadtteil Bernburgs, der dem imposanten Schloss gegenüberliegt. Dazwischen fließt die Saale. Noch heute prangt der Schriftzug „Max Hesse“ über der kleinen Werkstatt auf dem Markt. Der Name des Firmengründers, für immer verewigt in alten Holzbuchstaben. Matthias Hesse ist die vierte Generation. Er ist bei seinem Vater von 1986 bis 1988 in die Ausbildung gegangen und hat alle Kniffe der Handwerksbuchbinderei von der Pike auf gelernt.
„Das stand außer Frage“, kommentiert er diesen Schritt. „Ich bin ja schließlich auch in der Papierkiste groß geworden.“ Er schmunzelt. „Das sagt meine Mutter jedenfalls immer.“ Sein älterer Bruder steht als Nachfolger im kleinen Familiengeschäft von Anfang an nicht zur Debatte. Ihn zog es weg, Matthias Hesse blieb, wurde Geselle und im Februar 1997 ein Meister seines Handwerks.
„Bis zur Wende lief es richtig gut“, erinnert sich der zweifache Vater. „Meine Eltern und ich hatten in der kleinen Werkstatt viel zu tun.“ Damals, erklärt Matthias Hesse, haben wir hauptsächlich alte Bücher repariert, die die Leute aus dem Altpapier gefischt haben. „Das war spottbillig. Unsere Regale hingen durch, so viele alte Schwarten hatten sich angesammelt. Die Wartezeit betrug schon mal ein halbes Jahr und länger.“
Doch auch repräsentative Mappen für Betriebe fertigen die Hesses an.
„Es wurde ja in der DDR andauernd wer ausgezeichnet.“ Damals wie heute wird mit der Druckerei Völkel zusammengearbeitet, die ebenfalls auf dem Bernburger Markt beheimatet ist. „Die haben gedruckt, wir haben gebunden. Win-win nennt man das ja heute.“ Dann wendet sich die deutsche Geschichte und für die Buchbinderei wird es sehr schwer. Matthias Hesse wird leise. „Dann hat es irgendwann für mich nicht mehr gereicht.“
Auf den unausweichlichen Gang zum Arbeitsamt folgt eine mehrjährige Pendelei ins Bauhaus Dessau. Dort arbeitet der Buchbindermeister Anfang der 1990er Jahre im Archiv und bringt seine Erfahrungen mit Papieren ein. „Ich habe Passepartouts geschnitten, Bilder gerahmt und Ausstellungen vorbereitet. Das war schon was. Aber ich bin jeden Tag fast 100 Kilometer gefahren. Eine harte Zeit.“ Der Wegzug aus Bernburg – undenkbar! „Hier war ja unsere Werkstatt, die mein Vater noch führte. Und ich wollte wieder einsteigen, das war klar.“
Mit Beginn des Jahres 1998 übernimmt er den Betrieb von seinem Vater. „Es war immer noch schwer, aber ich wusste, das klappt.“ Die Buchbinderei Hesse bekommt in den folgenden Jahren eine neue Werkstatt, die an das alte Ladengeschäft angebaut wird. Dafür muss der Hof weichen, doch die Arbeitsfläche vergrößert sich auf etwa 120 Quadratmeter. „Ich wollte ordentliche Bedingungen“, erklärt Matthias Hesse die mutige Investition in die Zukunft. „Eine ordentliche Heizung, ordentlich Licht und ordentliche Belüftungsmöglichkeiten.“ Den Charme längst vergangener Zeiten hat er aber nicht verbannt.
Wer vom alten Laden in die neue Werkstatt geht, läuft über altehrwürdigen Linoleumboden und an deckenhohen Schränken und Regalen vorbei. Alle alt, massiv und vollgepackt. Hier lagert auch das beige Ziegenleder vom Schachbuch auf einer Rolle, ebenso andere Lederarten, Stoffe und Gewebe. Alles kommt auch beim Einbinden von Abschluss-, Bachelor-, Diplom-, Master- und anderen Facharbeiten zum Einsatz. Zu den Kunden von Matthias Hesse gehören Privatleute, Bibliotheken, Stadtarchive und Standesämter. Die Restauration und die Aufarbeitung alter Druckwerke machen im Schnitt knapp ein Drittel seiner Tätigkeit aus, schätzt der Buchbindermeister.
Einen Computer gibt es in der von zwei großen Oberlichtern hell erleuchteten Werkstatt von Matthias Hesse nicht, nur im Büro steht einer. „Digitalisierung ist wichtig, gerade für Unternehmen der jungen Generation, aber ich benötige für mein Handwerk hauptsächlich alte Arbeitsgeräte. Die ohne Stecker und Bildschirm“, sagt er mit einem Schmunzeln. Doch eine halbwegs moderne Maschine hat er.
„Die Schneidemaschine ist aber auch schon 20 Jahre alt. Und für den Preis hätte ich mir damals einen guten Kleinwagen kaufen können“, erinnert sich der Buchbinder. „Und die hat sogar einen kleinen Bildschirm.“ Er lacht und schreitet seine alten „Kollegen“ ab. Die wuchtige Pappschere, die verschiedenen Pressen, die Stanzmaschine und die uralten Gewichte. Es gibt viel Tischfläche, worauf der Einzelunternehmer Buchblöcke lagert, die gebunden werden müssen. Und alte Bücher, die er liebevoll vor dem Verfall rettet.
Dann geht vorn im Laden die Türklingel. Auf einem Mini-Röhrenfernseher sieht Matthias Hesse einen Kunden stehen. Es ist der Mann mit dem Schachbuch, es ist Abholtag. Der Senior nimmt das Buch und wiegt es hin und her. Sagen kann er erst einmal nichts. Er lächelt nur fasziniert.
Es sind Momente wie diese, die Matthias Hesse an seinem Handwerk liebt. Fragt er sich da manchmal, ob es eine fünfte Generation geben wird? Ob das alles immer so weitergeht, überhaupt weitergehen kann? Er lässt sich Zeit mit der Antwort, zuckt dann mit den Schultern. „Mein Sohn und meine Tochter haben andere Berufe ergriffen und ich habe auch nie versucht, ihnen reinzureden.“ Drei Enkelkinder hat er – immerhin. Doch Buchbinderei als Berufswunsch?
„Dafür sind sie noch zu klein.“ Zunächst einmal hat Matthias Hesse vor, auch über das Rentenalter hinaus in seiner Werkstatt Buchrücken zu leimen und Leder zu schneiden. „Ja, das schwebt mir so vor. Aber ich muss ja grundsätzlich noch ein bisschen durchhalten.“ Und er macht sich und seinen Enkeln keine Illusionen. „Ich weiß nicht, ob ich ihnen überhaupt zuraten kann, diesen Beruf zu lernen. Es ist sehr schwer.“ Die Familientradition scheint, Stand 2022, endlich.
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