Freiraum an der Bahnsteigkante
Aus einer Initiative wird ein Dorfgemeinschaftsort
Aus einer privaten Initiative zur Rettung eines Dorfbahnhofs in Anhalt-Bitterfeld wird etwas Größeres. Engagierte halten nicht nur das Gebäude instand, sie schaffen einen Dorfgemeinschaftsort. Trotz vieler Hürden. Ein echter Kraftakt.
Von Sabrina Gorges, Freie Journalistin
Kleiner Bahnhof, großes Projekt
Kleiner Bahnhof, großes Projekt: Abseits urbaner Kunst- und Kulturhotspots wie Berlin, Leipzig, Halle und Dessau-Roßlau haben Engagierte im Landkreis Anhalt-Bitterfeld einen kreativen Freiraum an der Bahnsteigkante geschaffen. Wo einst Reisende Fahrkarten lösten, in Züge stiegen und Zurückgebliebenen winkten, ist längst ein Ort der Begegnung entstanden. Ein mit Leben gefüllter Raum für Konzerte, Ausstellungen, Workshops, Seminare und andere private Veranstaltungen. Im Zörbiger Ortsteil Großzöberitz hat der alte Bahnhof am Ortsrand nicht nur motivierte Retter gefunden, sondern auch eine Neunutzung erfahren. Gewöhnlich ist an diesem Projekt, wie es einem hier und da schon öfter untergekommen ist, allerdings nichts. Denn der Verein dahinter ist sehr klein, und die Engagierten fast alle mehrere Hundert Kilometer entfernt. Doch sie sagen unisono: „Wir haben alles zusammen, um Kultur anzubieten.“ Und so schlagen sie aus ihrem Bahnhof heraus eine „Landbrücke“ in die Region – und bringen so Menschen zusammen.
Der Ursprung des Engagements
Der Ursprung allen Engagements liegt in Gregor Roth aus Berlin. Der deutschlandweit an Theatern tätige Beleuchtungsmeister legt den Grundstein für das Gegenwärtige. Privat kauften er und seine damalige Partnerin im Jahr 2015 den 125 Jahre alten gelben Backsteinbau mit Nebengelassen, um es sich schick zu machen. Bis 2002 war der Bahnhof in Betrieb, bis heute fahren Güterzüge an ihm und der begrünten Böschung vorbei. Die Sanierung des mehrgeschossigen Hauses startet Roth hochmotiviert – doch das Leben schlägt 2019 einen unerwarteten Haken. Ein neuer Plan muss her. „Ich hatte viele Menschen aus dem Kreativ- und Kulturbereich längst mit meinem Bahnhofsprojekt vertraut gemacht“, erzählt der 1975 in Frankfurt am Main geborene Roth über die damalige Zeit. „Irgendwann haben wir uns gefragt, warum wir keinen Verein gründen und etwas Gemeinschaftliches auf die Beine stellen.“ Größer denken, mutiger werden, intensiver arbeiten – wie kann das gelingen? Wenn nahezu alle Menschen in Verbindung mit dem Bahnhofsprojekt weder im Ort, noch im Landkreis oder überhaupt in Sachsen-Anhalt leben?
Eine Simulation als Startpunkt
„Im August 2019 haben wir eine Art 24-Stunden-Simulation gemacht“, blickt Ulrike Gaye zurück. „Wir haben ein großes Sommerfest gefeiert und ausgelotet, was alles möglich ist. Musik, Theater, Akrobatik und Malerei, es war viel los damals und es hat sich wirklich gut angefühlt. Danach haben wir gewusst, was wir an diesem Ort machen wollen.“ Ulrike Gaye ist Jahrgang 1959, Landschaftsgärtnerin und wohnt in der Nähe von Nürnberg (Bayern). Zusammen mit Gregor Roth ist sie Teil des vierköpfen Vorstands des gemeinnützigen Vereins Freiraum Kunst und Kulturbahnhof Tannepöls, der sich im Herbst 2019 gegründet hat und aktuell 25 Mitglieder zählt. „Wir hatten die Begeisterung und den Mut, in Großzöberitz einen generationsübergreifenden Ort des kulturellen, künstlerischen und sozialen Austauschs zu schaffen.“ In einem Dorf, das vor vielen Jahrzehnten aus Tannepöls und Möhlau entstanden ist und heute zur Stadt Zörbig gehört.
Fördermittel für den Kulturbahnhof
Mitten in der Corona-Zeit - im Jahr 2020 - kauft der Verein den Bahnhof und das fast 7000 Quadratmeter große Grundstück. Im selben Jahr gibt es vom Land Sachsen-Anhalt 80.000 Euro Fördermittel aus dem Programm „Demografie – Wandel gestalten“, mit dem Maßnahmen zur Gestaltung der Folgen des demografischen Wandels unterstützt werden. Hinzu kommen seinerzeit rund 24.000 Euro Eigenmittel aus der Vereinskasse. „Wir haben verschiedene bauliche Maßnahmen realisiert und damit die Sanierung des Bahnhofsgebäudes fortgesetzt“, erklärt Gregor Roth. Als Beispiele nennt er Teile der Elektrik, eine Fußbodenheizung im Café- und Küchenbereich, Akustikdämmung, ein Rettungsfenster und ein großes Bad im Obergeschoss, denn im Bahnhof kann bei Selbstversorgung auch übernachtet werden. Bis zu zwölf Menschen finden auf den Etagen gemütliche Schlafplätze, etwa während Workshops und Seminaren.
Bahnhofs-Café hat sich etabliert
Inzwischen ist der Bahnhof, an dem auf der einen Seite der verwitterte Ortsname „Tannepöls“ und auf der anderen Seite „Großzöberitz“ steht, ein multifunktionaler Begegnungsort. Karola Siebert wohnt gegenüber und kommt regelmäßig zum Bahnhofs-Café. „Mindestens einmal im Monat sitzen wir von 14 bis 17 Uhr zusammen. Das ist immer schön. Ist ja auch sonst nüscht mehr da“, berichtet die Rentnerin schulterzuckend. „Manchmal sind wir drei, manchmal zehn. Es kommen auch welche von außerhalb.“ Für Karola Siebert, die oft mit ihrem Enkel kommt, ist der Bahnhof inzwischen ein Teil des Alltags. „Die können ja nicht immer da sein. Aber wenn, dann gehe ich rüber und wir halten ein Schwätzchen.“ Und ihr Enkelsohn, berichtet sie stolz, bekomme immer seine Spezi.
Verein braucht ein Wunder
Und genau im Nicht-immer-da-sein-können liegt die größte Herausforderung für Ulrike Gaye, Gregor Roth und Thomas Berends. „Die wichtige Präsenz vor Ort und die damit verbundene Arbeit können wir bei unserer Größe und der räumlichen Distanz immer schwerer leisten“ sagt der Anästhesist aus Nürnberg, der sich auch im Verein engagiert. Veranstaltungen und Buchungen des Bahnhofs können nur mit viel Aufwand realisiert werden, zudem lassen die laufenden Kosten die freie Vereinsarbeit zu einem echten Kraftakt werden. Was es braucht, sagen die Engagierten, ist ein Wunder. „Wir wollen unsere Mitgliederzahl um etwa 150 nach oben schrauben und vor allem Ehrenamtliche aus der Region rund um Zörbig fürs Mitmachen begeistern“, bekräftigt Ulrike Gaye. Denn nur dann können die Räume im Großzöberitzer Kulturbahnhof mit so viel Leben gefüllt werden, dass auch ein Überleben möglich ist.
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