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Billberge zweipunktnull

Billberge zweipunktnull

Billberge ist ein winziges Sackgassendorf. Hier fahren die Menschen auf ihrem Weg zwischen Tangermünde und Arneburg einfach vorbei. Doch das ehemals „geschlossene Dorf“ erlebt eine große Öffnung. Nur vorbeifahren ist bald Geschichte. Eine Neubesiedlung steht an.

Von Sabrina Gorges, Freie Journalistin

Kaum aus dem Auto ausgestiegen, rennen die Kinder auf die große Schaukel zu, die neben einem Brunnen an einer stattlichen Linde befestigt ist. Übermütiges Lachen ist zu hören. Die Sonne scheint und auf den nahen Koppeln grasen Pferde. Elisabeth und Andreas Isaak lassen mit einem Lächeln im Gesicht die Blicke schweifen. Das junge Paar ist nach Billberge gekommen, um für sich die Fragen zu beantworten: Wollen wir hier wohnen? In einem Dorf, das direkt an der Elbe liegt und eine Sackgasse ist? Zwei Wochen zuvor war Elisabeth Isaak zum ersten Mal für Reitstunden auf Gut Billberge, wo auch der traditionsreiche Reit- und Sportverein „Ferdinand von Schill“ seinen Sitz hat. „Ich habe gedacht: Wow, ist das schön hier“, berichtet sie. „Und dann habe ich von dem Projekt erfahren. Wir haben derzeit eine Mietwohnung in Fischbeck und das hier wäre unser Traum.“ Ihr Umzugsweg würde die Familie über die Elbe führen. Er wäre nicht einmal 15 Kilometer lang.

 

Ziel ist eine Neubesiedlung

Noch seien da „Fragen über Fragen“, berichten die dreifachen Eltern. Antworten bekommen sie von Marlene Brühl. Die 1973 geborene Managerin mit polnischen Wurzeln hat ein „Billberge 2.0“ initiiert. Sie will den winzigen Ort zwischen Tangermünde und Arneburg zu einem Raum für gemeinschaftliches Wohnen, Leben und Arbeiten entwickeln. Ein Modell für nachhaltige Dorfbelebung, für die sie eine „Pioniergruppe“ sucht. Die Isaaks könnten zu diesen Pionieren gehören – und Billberge Stück für Stück aus dem Dornröschenschlaf erwecken. Marlene Brühl und ihre Mitstreiter haben eine Vision, die gleichzeitig auch eine Mission ist: Sie wollen das über Jahrzehnte monothematisch genutzte Dorf öffnen; wollen in den kommenden Jahren das „Werkdorf Gutleben Billberge“ erschaffen. 

Seit 1991 war der Ort ein Standort des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschlands (CJD). 2019 beschloss das CJD den kompletten Rückzug aus Billberge, das zur Zeit des CJD eine „geschlossene Gesellschaft“ war, wie Marlene Brühl es formuliert. Jahrelang fuhr die Geschäftsführerin der Altmark Industrie Management GmbH mit Sitz in Arneburg an Billberge vorbei, stallte irgendwann ihr Pferd dort ein und wurde bei der Nachricht, das CJD wolle Billberge „in einem Stück“ verkaufen, hellhörig. „Da habe ich mich neugierig reingehängt und ein Konzept geschrieben“, erzählt die Unternehmerin, die in Frankreich und Kanada aufgewachsen ist und zwischen Berlin und der Altmark pendelt. Sie veräußert eine Eigentumswohnung in der Hauptstadt, um sich ein fast leergezogenes Straßendorf mit Gutskapelle zu kaufen. So der Plan, den sie 2022 dem Kreistag des Landkreises Stendal vorstellt und mit dem sie sich gegen drei weitere Interessenten durchsetzt. „Ich habe das Konzept ganz einfach gehalten, wollte nicht zu ehrgeizig daherkommen.“ Denn eine Investorin will sie nicht sein, lieber eine „Dorfkümmerin“.

Im September 2022 ist die Übernahme perfekt, Anfang 2023 beginnt die konkrete Arbeit am „Werkdorf Gutleben Billberge“ – zunächst mit der infrastrukturellen Erschließung. Marlene Brühl möchte, dass wieder Leben in das Dorf einzieht, wo aktuell neun Menschen in drei Einfamilienhäusern wohnen. Menschen aus ganz Deutschland sollen in Billberge, das zur Ortschaft Storkau gehört, ankommen, gestalten und naturverbunden und gemeinschaftlich leben. Im Konzept ist von einer „dynamisch weltoffenen Dorfgemeinschaft“ die Rede. „Das ist alles nicht starr, keiner muss sich verbiegen“, bekräftigt Marlene Brühl. „Wir gucken, wer kommt, und reagieren dann.“ Nur unideologisch und undogmatisch soll es sein.

 

Siedlungsgründung als Nachbarn

Im Juni dieses Jahres beginnt das Projekt mit einer ersten Informationsveranstaltung, die auf großes Interesse stößt. Weitere werden die einzelnen Projektphasen flankieren. Mit Unterstützung der auf diesem Gebiet erfahrenen vielleben eG soll Billberge ein Ort für gemeinschaftliches, naturnahes Leben und kreatives Arbeiten werden. Stefan Willuda ist Berater und Mitglied der Genossenschaft, die ihren Sitz in München hat und Projekte “für ein besseres Zusammen” – Zitat vielleben eG – in ganz Deutschland und sogar in Italien umsetzt. Stefan Willuda hat mit der Beta Hof GmbH den „Gemeinschaftsaufbau“ übernommen und organisiert zusammen mit seiner Geschäftspartnerin Kristina Klessmann das Onboarding für eine gezielte Anwerbung und Integration künftiger Bewohnerinnen und Bewohner. „Das Projekt umfasst den Bau von 22 Holzhäusern sowie die energetische Sanierung und grundlegende Renovierung von mindestens 17 bestehenden Wohnungen. Zusätzlich werden ehemalige Werkstätten zu Ateliers für Künstler, Handwerker und Unternehmer und wir schaffen ein Gemeinschaftshaus als Treffpunkt für alle“, fasst Stefan Willuda das Projekt zusammen. Bezahlbarer Wohnraum sei das Ziel, die Größe der insgesamt zu entwickelnden Fläche beziffert der Experte mit rund 40.000 Quadratmetern. Etwa 120 Menschen sollen einmal in Billberge zu Hause sein. Durch die dörflich geteilten Gemeinschaftsräume, Außenanlagen, Gärten und Spielplätze können die privaten Häuser reduziert ausfallen. Ein kleines Holzhaus wird nicht mehr als 20 Quadratmeter Grundfläche besitzen, ein großes um die 60. 

Der erste Wohnhof soll im kommenden Juni entstehen. Weitere Höfe sollen schnell folgen. So ein Hof besteht aus mehreren Holzhäusern, die so aufgestellt werden, dass ein gemeinsamer Innenhof und damit unmittelbare Nachbarschaft entsteht. Die in Billberge aufs früheren Zeiten existenten kleinen Wohnblöcke sollen erhalten und saniert werden. Durch neue Balkone und Terrassen wird lebenswerter Außenraumbezug geschaffen, sagt Willuda. Wer künftig in Billberge leben möchte, soll seinen Hauptwohnsitz nach Billberge verlegen. „Darauf legen wir Wert. Wir bauen hier keine verschränkte Ferienhaussiedlung, sondern wir entwickeln einen lebendigen Ort, der in die Region hineinwachsen soll“, erklärt der Berater für Organisationsgestaltung. 

 

Bereits in Nutzung ist das Gästehaus mit mehreren Zimmern auf dem ehemaligen Gutshof. Auch ein Veranstaltungssaal ist fertiggestellt und wird genutzt, ebenso ein knallgelbes Häuschen mit intaktem Küchenbereich, das den Namen „Gute Stube“ trägt. Hierin sollen sich vor allem Kinder kreativ ausleben können. Der 1966 gegründete Reit- und Sportverein Billberge mit rund 70 Mitgliedern besteht weiter eigenständig, wird aber in das Vorhaben von Marlene Brühl und der vielleben eG einbezogen. In Billberge vereint sich der Wunsch nach einem Zusammenleben, das beziehungsreicher und nachhaltiger ist – und dem es an nichts fehlen soll. Alle haben längst die Ärmel hochgekrempelt, auch der Ortschaftsrat von Storkau und die Stadt Tangermünde sitzen mit im Boot und unterstützen, wo es ihnen möglich ist.

// www.billberge.de